Evelyne Marti

Das Jugendgericht

Erzählung
 
"Hast Du schon gehört? Elina aus Deiner Klasse 4D muss vor das Jugendgericht!" Die Tür des Lehrerzimmers flatterte, während die Schüler in den Gängen lichthungrig nach draußen drängten. 
 
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"Ja, ich weiß, ich wurde dazu schon befragt." Dem Hereintretenden begegnete ein ernstes Augenpaar, das keine weiteren Fragen duldete. Betroffen zog sich der Kollege zurück und begab sich in einer zögerlich kreiselnden Kehrtwendung zu den betont laut diskutierenden Lehrerkollegen in der gegenüberliegenden Ecke, die gerade die Tagesplanung der anderntags bevorstehenden klassenübergreifenden Schulreise an den Bodensee durchnahmen und sich offenbar nicht einig wurden. In Gedanken versunken verließ der davor Angesprochene den Raum, worauf ihr Gespräch alsbald erstarb und einem gegenseitig sich fragenden Blickaustausch wich.
 
Es ging um Mord, so stand es jedenfalls in den Schlagzeilen sämtlicher Zeitungen und Medien des Landes. Und ausgerechnet jemand aus ihrer Schule sollte damit zu tun haben, wenn man den Medien glauben wollte. War es überhaupt noch tragbar, unter solchen Umständen diese doch recht groß angelegte Schulreise durchzuführen? Jetzt wo alle möglichen aufdringlichen Medienleute den Schülern nachstellten und sich im Eingangsportal eine Flotte von sensationsbegierigen Reportern und Zeitungsleuten zusammenrottete, um Elinas Mitschülern irgendein unwichtiges, aber zum Aufhänger der nächsten News komprimierbares Detail zu entlocken. 
 
Es war mehr als unglaublich, ausgerechnet Elina, die mit Abstand fleißigste und gewissenhafteste Schülerin der Oberstufe und dazu noch einstimmig gewählte Klassensprecherin und Nachhilfekraft mit Bestnoten, in Verbindung zu bringen mit einem Mord. Das konnte einfach nicht wahr sein! Es musste sich um eine tragische Verwechslung handeln. Den Medien war auch nichts heilig, wie konnten sie diesem liebenswürdigen Mädchen, das gerade durch sein herzliches, sanftes und anhängliches Wesen besonders hervorstach, eine solche Tat zutrauen! 
 
Aber was wussten sie wirklich von Elina? Was in ihr vorging, blieb ihnen letztlich verborgen, denn Elinas Wesen erschien ihnen seit jeher seltsam fremd und fern, gerade weil sie sich durch ihre Gewissenhaftigkeit und Aufopferungsbereitschaft hervortat und in ihrer exakten Arbeitsweise und Voraussicht auffiel. Sie wirkte für ihr junges Alter ausgesprochen reif und schon fast beunruhigend abgeklärt wie jemand, der bereits viel ertrug und durch nichts mehr erschüttert werden konnte. In ihrer Gegenwart fühlten sich die Lehrer ebenso wie die Mitschüler merkwürdig unvollkommen, denn ihrem Blick haftete etwas Urteilendes und fortwährend Verzeihendes an, als gäbe es in ihrem Gerechtigkeitsempfinden stets etwas zu bemäkeln, wäre da nicht ihre Güte, die alles milderte und ausglich. Dann wiederum schien sie selbst an ihrem Anspruch zu leiden und sich zurückzuziehen, ihren Gewohnheiten nachgehend, stets wissbegierig angetrieben in ihrem Forscherdrang, zwanghaft nach Enträtselung suchend, erfolgreich Lücken aufdeckend, unzufrieden mit dem, was die Welt ihr als letzte Antwort bot, immerfort davon überzeugt, darin nur eine maskierte Welt zu erblicken, die enthüllt werden musste, um an das eigentlich Wesentliche dahinter zu gelangen. Astronomie, Religion, Philosophie, die Andere Welt jenseits der äußeren Wirklichkeit, all das interessierte sie brennend, wobei sie das Transzendente rational umschloss in ihrem nüchternen, gefühlsentladenen Denken, weltenthoben im unbestimmbar Intuitiven des freiheitssuchenden Selbst.  
 
Doch wirkte sie gleichzeitig wie ein Halm im Wasserglas prismatisch gebrochen und von etwas ausgebremst, als könne sie nicht ausleben, was ihr entsprach, als würde etwas oder jemand sie davon abhalten, sich selbst zu leben. Ihre Aufsätze erzählten von einer bedrückenden Lebenswirklichkeit, der sie sich nicht entziehen konnte, Andeutungen von Angst, dem Ausgesetztsein, Ausweglosigkeit, ein unfreiwilliges Aushalten, ein Hilferuf, der jedoch nur Konturen umriss und keine konkreten Ängste benannte, vorsichtig um sich spähend, nichts verratend, den Mund zuhaltend, um ja nicht zu viel nach außen dringen zu lassen. Ihre Aufsätze gingen durch die Reihen, alle horchten hin, was da war zwischen den Zeilen, die lautlosen Hilferufe, die doch niemand hörte, worauf niemand antwortete, da niemand verstand, wovon sie schrieb in ihrer Stille und den ungesagten Worten zwischen gedrechselt poetischen Sätzen, welche ihrem Leid eine Ausdrucksmöglichkeit erschufen, ohne dieses wirklich aufzudecken und zu befreien. In großen Lettern schrieb sie jeweils "VERTRAULICH!" hin, bis der nächste ihr den Aufsatz entriss, ohne wirklich etwas zu erfahren von ihr und dem, was tatsächlich in ihr vorging. Sie blieb ein ungelöstes Rätsel. Es gab keine Begriffe für das, was sie fühlte und erlebte, sie blieb in sich allein. 
 
Da sie keinen Ausdruck fand, um seelische Nähe herzustellen, suchte Elina diese durch eine scheue Anhänglichkeit bei den Lehrern, die von ihr angetan den fehlenden familiären Halt ersetzten. Während ihre Mitschüler nach dem Gong erleichtert das Schulgebäude verließen, blieb sie dankbar in den leeren Schulräumen zurück, bis der Hauswart schließen wollte und sie mit dem letzten Abendbus nach Hause fuhr. Das Schulhaus wurde ihr geliebtes Daheim, wo sie sich in ihre Bücher vergrub, während sie zuhause das Grauen erwartete. Doch ahnte niemand etwas davon. Es blieb ihr unergründliches Geheimnis. 
 
Es sollte auch niemand erfahren, deshalb lud sie nie jemanden zu sich nach Hause ein. Mit Ausnahme eines Mädchens, vier Jahre jünger als sie, welches Ähnliches durchlebte, ohne dass sie darüber sprachen. Während Elina ihr Elternhaus weitgehend mied und die Freiheit in der Schule und Bibliothek wiederfand, wurde ihre jüngere Freundin von ihren Eltern regelrecht eingesperrt, sie durften sich nur ganz selten gegenseitig besuchen. Trotzdem entstand zwischen ihnen eine starke Bindung, als wären sie Geschwister, auch weil sie sich seit frühester Kindheit kannten und auf dem Pausenhof der Schule zusammen spielten. Die belesene Elina sah sich in der Rolle der unterweisenden älteren Schwester und Lehrerin, während die jüngere Antonia zu ihr aufblickte und unter ihrer Leitung die Bücher mitzulesen begann.
 
Bis eines Tages Antonia spurlos verschwand. Da Antonias Eltern Elina wiederholt gedroht hatten, mit ihrer Tochter zurückzukehren in ihr Heimatdorf an der Meeresküste Apuliens, wenn sie den Kontakt mit Antonia nicht unterließe, schien dies eine naheliegende Erklärung zu sein, doch stellte sich bald heraus, dass Antonias Eltern selbst verzweifelt nach ihrer Tochter suchten. Die Polizei ging von einem Verbrechen aus. Zweieinhalb Wochen später wurde Antonia in einem abgelegenen Gelände zwischen weit auseinanderliegenden Gehöften eher zufällig aufgegriffen, schwer verletzt und gerade noch lebend, dabei völlig apathisch. Es war nichts aus dem neunjährigen Kind herauskriegen. Das Mädchen schien seine Sprache verloren zu haben. Niemand außer Elina konnte Antonia in ihrer traumatisch schweren Betrübtheit erreichen, weshalb die Eltern nun froh waren, wenn Elina nach ihrer Tochter fragte und sie in der Kinderklinik besuchte. Der oder die Täter wurden jedoch nie ausfindig gemacht trotz einiger Spuren und Hinweise, die jedoch ohne Antonias Aussagen ins Leere verliefen.
 
Elinas Hinwendung schien sich nun vollends auf Antonia zu richten, als ginge es ausschließlich und ungeteilt darum, Antonia wieder ins Leben zurückzuführen. Ihre eigenen Lebensziele verloren an Gewicht und die schulischen Leistungen litten. Sie wandte unendlich viel Liebe auf, um sich immer wieder etwas Neues für Antonia einfallen zu lassen und ihr ein Lächeln auf das trotz braunem Teint blasse Gesicht mit den dunklen Rehaugen zu zaubern. Und es gelang ihr zur Freude der immerzu besorgten Eltern Antonias. Elinas Kreativität schien keine Grenzen zu kennen zum Wohlgefallen ihres Kunstlehrers. Sie gestaltete unzählige feingliedrige Puppen, deren unterteilte Gliedmaßen sich in alle Richtungen bewegen ließen, denn Antonia liebte das Puppentheater. Auch die Kostüme der Puppen wurden bis in alle Einzelheiten der Märchenwelt nachempfunden, sogar mit kleinen, zierlichen Kronen für die Königsfamilie. Elina entwickelte eigens eine Bühne mit unterschiedlichen Hebeschiebern, um möglichst viele Puppen selbständig zu führen, doch traf sie dann doch noch einen geeigneten kräftigen Gesellen, der ihr half in der Hebetechnik und beim Transport, womit sich zunehmend ein breiteres Publikum im großen Schulsaal einfand, wo sie nach Schulschluss bis zum Abend übten. Die Hauptvorführung fand jedoch in der Klinik bei Antonia statt, wo die gesamte Kinderabteilung freudig kreischend daran teilnahm. Ein unvergesslicher Abend, wie sehr doch die Kinderaugen entrückt kullerten und leuchteten, als gäbe es fortan kein Leid mehr auf dieser Welt.
 
Antonia strahlte und Elina spürte auf einmal den erdrückend klaffenden Schmerz in sich aufreißen bei dem Gedanken, ihre kleine Freundin an jenem verhängnisvollen Tag nicht begleitet zu haben. Wäre sie nur bei ihr gewesen an dem Tag, als Antonia verschwand. Es hätte nie geschehen dürfen! Wer war dieses Phantom, das Antonia derart verschlingen konnte und gesichtslos davonkam und Antonia in ihren Alpträumen heimsuchte? Er war nicht greifbar, als wäre er ein Geist und kein Mensch. Doch musste er da draußen irgendwo sein und vielleicht hatte dieses Monster schon wieder zugeschlagen. Er durfte nicht einfach so davonkommen, wie konnte das sein, dass er sich noch auf freiem Fuß befand und ihn niemand fassen konnte! Wie sehr sie später auch auf Antonia eindrang, um mehr zu erfahren, begegnete ihr eine Mauer des Schweigens und des inneren Rückzugs, wogegen sie nicht ankam und deren Durchbrechung ihr auch hartherzig erschien. Zu verletzlich fühlte sich Antonias Zustand an, deshalb brauchte sie den Schutz der umhüllenden Decke, die sich vorsorglich über ihre zerbrechliche Seele legte. So verstummte auch Elina, den Täter entlassend im dunklen Raum des Verdrängens. 
 
Stattdessen begann Elina, Antonia Geschichten zu erzählen, wo sie gemeinsam stark auftraten, wo der böse Schatten keine Macht erhielt, weil sie, Elina, ihn vertrieb. Wo Antonia auch hinging in ihren Erzählungen, wachte Elina stets über sie, sie war nicht mehr allein, es konnte ihr nichts geschehen. So wurde das Phantom in Antonias Alpträumen immer kleiner und blasser. Antonia fühlte sich sichtlich gestärkt und blickte nach vorne, sie konnte wieder die Schule besuchen und freute sich darauf, der beengenden Welt ihrer kontrollsüchtigen Eltern in dieser Zeit zu entfliehen. Im Laufe der Zeit beschrieb Antonia einige äußere Eindrücke, die sie am Tag ihres Verschwindens erlebt hatte. Es schien ihr nicht bewusst zu sein, wovon sie sprach. Ebenso beiläufig erwähnte sie auf einmal, dass sie ihn wiedergesehen habe - ihn, derjenige, der ihr das angetan hatte. Aus Antonias Eindrücken, die sie tonlos wie in Trance einfach so dahinerzählte, formierte sich ein Tathergang. Der Täter bekam ein Gesicht. Immer mehr glaubte Elina, aus den beschriebenen Fragmenten auf Ort, Zeit und den Täter schließen zu können, er kam ihr bekannt vor, es war kein völlig Fremder.
 
"Sie soll ihn also kaltblütig ermordet haben?" 
 
"Ja. So scheint es."
 
"Kennst Du die Hintergründe? Was hat sie dazu getrieben?"
 
"Das wissen wir eben nicht. Sie schweigt."
 
"Es gibt doch sicher noch andere, die ein Motiv gehabt hätten, nicht?"
 
"Ja, das ganz gewiss."
 
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