Evelyne Marti

Nachtgeflüster

Kurzgeschichte
 
"Dreh endlich diese unerträgliche Musik ab! Es ist Nachtruhe, wir wollen schlafen!" schrie der Vater im Hausgang unmittelbar vor der Treppe in den unteren Stock, worauf die bebende Wand wie ein sich verziehendes Gewitter nach ein paar letzten drohenden Einschlägen in sich ging und weiterzog in die Tiefen des nächtlich krachenden Gewölks, die abdrehende Musik der Stille den Vortritt überlassend.
 
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Einer unheilvollen Stille, die keinen Schutz gewährte, während die brutale Gewalt der hämmernden Musik als etwas Kostbares und Rettendes im Raum nachhing, verloren den Kampf gegen die düstere Nachtstille, die sich unaufhaltsam breitmachte im Raum und sich als zischende Schlange der Schlafenden bemächtigte und den Nichtschläfern kühl die Beine hochkroch. Schnarchen im Nebenraum, die Eltern für die nächsten Stunden unwiederbringlich an die Nacht verloren, gehörlos und stumpf in tiefstem, unerwecklichem Schlaf. Zu Waisenkindern geworden. Niemand mehr da, der die zwei kleinen Mädchen in ihrem Zimmer beschützen konnte, nun ganz auf sich gestellt. 
 
"Ich hab ja nichts zu fürchten, denn ich schlafe mit meinem Engelkissen", strahlte die sechsjährige Maelle wie eine kleine Prinzessin, die sich in feinsten Seiden bettete und sich von Wächtern umsäumt betrachtete. "Dann werde ich wieder fliegen im Traum und als Engel zu Dir runterschauen und Dich auslachen, weil Du da unten bleiben musst und ich fliegen kann und Du nicht!" kicherte sie freudig triumphierend, während sie über einem alten Faserteppich auf ihrer Seite des Bettes, nahe dem Fenster zu, ihr allnächtliches Fußstampf-Ritual vollführte, in die Laken hüpfte, sich an ihr magisches Traumkissen pellte und die Augen ganz fest zudrückte, um möglichst schnell drüben zu sein im zauberhaften Engelreich, ihre ein Jahr ältere Schwester Laura der dunklen Nacht aussetzend, während sie das Engelslicht erblickte.
 
Laura fühlte ihren warmen kleinen Körper geborgen, aber wehrlos neben sich, über den sie fortan Wache hielt. Es befiel sie ein großer Ekel bei dem Gedanken, auf der ihr zugedachten Seite, der Tür zugewandten Bettkante, zu liegen, seinen nach ihr greifenden Händen ausgeliefert. Diesmal würde er ins Leere fassen, denn sie lag in der Mitte zwischen den Matratzen, außerhalb seiner Armlänge, ihr Körper wie ein Wall schützend um ihre kleine, sorglose Schwester gerichtet, sodass sie hinter ihrem Rücken vollends unsichtbar und sicher blieb. Sie lächelte. Ja, sie würde aufpassen und ihre Schwester beschützen.
 
Ein bisschen neidisch war Laura aber schon, wie Maelle es wie von Zauberhand schaffte, sich in die Engelwelt zu träumen mit ihrem Traumkissen, das jede Nacht, während sie nachts wachlag und aufpassen musste. Doch war sie die ältere Schwester, die Mutter hatte ihr die Verantwortung übertragen. Nur fand sie es trotzdem ungerecht, dass sie stattdessen auf der linken Bettkante liegen musste, die in aller Breite und Sperrigkeit zur Tür ragte, als wäre sie weniger wert als ihre Schwester. War sie denn nicht genauso ein Kind? Warum durfte sie nicht wie Maelle ein Kind sein? Warum galten für sie andere Regeln? Sie wurde von niemandem beschützt. Sie war wirklich allein, auch wenn die Eltern nebenan unhörbar schnarchten. Die Mitteltür zu ihnen blieb verschlossen, während die Tür zu seinem Zimmerabteil sich jederzeit vereinnahmend öffnen konnte.
 
Sie durfte nicht einschlafen, denn ihr Schlaf war so tief, dass ihre Schwester jedes Mal glaubte, sie wäre tot. So hätte er sich unbemerkt nähern können im fahlen Licht der geöffneten Tür, nackt im Drogenrausch zu ihnen torkelnd, vertraulich einschmeichelnde Bruderworte flüsternd und mit schmutzig kalten Händen gierig nach ihnen tastend. 
 
Die Angst hielt sie wach. Sie durfte nicht einschlafen.
 
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