Evelyne Marti

Zeitreise

Kurzgeschichte

Weißt du noch - damals?

Klingende Worte, Erinnern und Vergessen, Lachen und Weinen, Wachen und Schlafen, die Zeit floss dahin und nahm mich sanft mit sich fort an einen unbekannten Ort, wo Raum und Zeit nicht mehr sind, in fremde Gefilde und doch vertraut, angekommen.

Ja, ich erinnere mich …
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Das Haus war alt, in schlichtem, schmutzigem Gelb, der Zaun rostig und abgeblättert, der Garten verwildert. Im Hintergrund erhoben sich dunkel die Fabrikanlagen: wahrlich kein schöner Ort und doch geliebt. Eine magische Welt, trotz all der inneren und äußeren Düsternis, doch kannte ich es nicht anders - damals.

Alles war Magie, jeder Kieselstein unter unseren Füßen, Rollschuhfahren auf dem Fabrikgelände, gewellte Dächer, Wasserpfützen, Kindergeschrei, bunte Stofftaschentücher, Zelte aus Bettlaken, Freiheit auf Rollern, Straßen ins Irgendwo, ein rankenumwobenes, verträumtes Nachbarhaus. Dort wohnte eine zauberkundige alte Frau, welche Löwenzahnblätter in weiße Federn verwandeln konnte und genau so aussah wie die Hexe in meinem Märchenbuch.

Alles stimmte: der bucklige Rücken, eine Warze auf der Nase, das mit Fruchtbaumranken überwucherte Haus, der plätschernde Steinbrunnen und ihr kleiner, frech bellender, spitznasiger Hund. Aber es musste wohl doch – so unglaublich es auch war - eine liebe Hexe sein, denn sie hatte einen Enkel, der in den Ferien immer auf der Schaukel vor ihrem Haus saß und uns die Federn brachte. Dass ER die Blätter mit Federn vertauschte, tat dem Abenteuer keinen Abbruch. Das Leben war ein magisches Spiel.

Wie lustig der Gedanke, der kleine Nachbarjunge nebenan könnte sich in die Wasserpfütze setzen, und er es dann wirklich tat, mit nacktem Popo, wie ich es bildhaft vor mir gesehen hatte. Noch heute muss ich darüber lachen, wie die Zeit da über sich selbst stolperte und die Reihenfolge nicht einhielt.

Nie werde ich vergessen, wie der Mann, der unten am Hügel in einem dunkelholzgebeizten, langkrempig bedachten Bauernhaus wohnte, auf einmal mit einer großen, schwarzen Katze am fernen Horizont erschien und sich auf uns zubewegte. Ich hatte es als Erste erkannt: die geschmeidigen Bewegungen, die Gestalt einer Katze, aber so groß wie ein zotteliger Bernhardinerhund, eine Raubkatze, ein Panter! Immer näher kamen sie heran, während wir die Skier von uns warfen und die Flucht ergriffen.

Nun befand ich mich vor dem Haus meiner Kindheit, es hatte sich nichts verändert. Sogar die Kaninchenställe standen noch da. Ächzend ließ sich das Gartentürchen heben. Ich ging um das verfallene Haus herum, alles wie damals, unverändert wie in einem Zauberberg, wo die Zeit anhielt und 30 Jahre wie 3 Tage waren.

Da stand sie auf einmal vor mir, sie sah so wie immer aus, zeitlos jung und alt, mir vertraut. Sie rief meinen Namen und suchte mich.

„Mutter.“

Sie blickte mich verwirrt an, als wäre ich eine Fremde, und verstand nicht.

„Mutter!“

Warum erkannte sie mich nicht?

Ein kleines Mädchen eilte herbei: Es trug glattes, braunes Haar und meine Augen.

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